In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden die mathematische Musikanschauung und die künstliche Kontrapunktlehre vom sensualistischen Standpunkt oftmals negativ geprüft. Johann Mattheson, ein repräsentativer Musikkritiker seiner Zeit, kritisiert diese Faktoren im Neu-Eröffneten Orchestre und in „Die Canonische Anatomie“ in seiner Critica Musica (Disputation gegen Heinrich Bokemeyer) ebenfalls. Aber diese Kritik scheint seiner Darstellung der Kontrapunktlehre im dritten Teil des Vollkommenen Capellmeisters zu widersprechen, der die norddeutsche Tradition der Kontrapunktlehre enthält. Daher beschäftigt sich der vorliegende Aufsatz mit der Rolle von Matthesons Melodielehre im Vollkommenen Capellmeister, in der er die Melodie als „edle Einfalt“ und „Natur“ betrachtet. Er stellt am Verbindungspunkt zwischen der Beschreibung der einfachen Melodie und der Vielstimmigkeit im Vollkommenen Capellmeister statt des Worts „Kontrapunkt“ den Begriff „Symphoniurgie“ vor, der „[e]ine Kunstmässige Zusammenfügung verschiedener mit einander zugleich erklingender Melodien“ bedeutet. Diese Interpretation des Kontrapunkts zeigt, dass Mattheson diesen nicht als mathematische Behandlung der Intervalle, sondern als „Vielfältigkeit mehrfacher Melodie“ betrachtet. Matthesons Melodielehre ist ein vorzüglicher Kunstgriff, der ohne Widersprüchlichkeit in einer Abhandlung die Integration der Darstellung der Kontrapunktlehre und der Kritik am mathematischen Faktor in der Musik, d. h. die rationelle, künstliche Behandlung der Musik, ermöglicht.
Schlüsselwörter: Johann Mattheson, Melodielehre, Der Vollkommene Capellmeister, Sensualismus, Symphoniurgie